Schreiben und Übersetzen, eine Frage der Kreativität

Schreiben und Übersetzen, eine Frage der Kreativität

Ich habe vor vielen Jahren als Autor angefangen und erst später, in den 80er-Jahren – nach meiner Auswanderung ins schöne Italien –, zum Übersetzer geworden. Der Grund dafür war die einfache Tatsache, dass ich damals vom Schreiben allein kaum leben konnte und meine Familie natürlich finanziell abgesichert werden musste. Etwa 15 Jahre später, Mitte/Ende der 90er-Jahre, rückte das eigene Schreiben erneut in den Vordergrund, und seit Anfang des neuen Jahrtausends bildet es den Schwerpunkt meiner Tätigkeit. Inzwischen übersetze ich kaum noch, was ich ein bisschen bedauere, aus gutem Grund.

Es ist eine Binsenwahrheit, dass man als Autor nicht nur schreiben, sondern auch viel lesen sollte. Die Beschäftigung mit geschriebener Sprache darf nicht auf die mit der eigenen beschränkt bleiben. Neue Ideen, Weiterentwicklung und die Erweiterung des eigenen schriftstellerischen Horizonts erfordern eine ständige Auseinandersetzung mit anderen Ideen und Konzepten – in diesem fruchtbaren Boden wurzelt die Kreativität. Andere Bücher zu lesen, ist eine Sache, sie zu übersetzen eine ganz andere, denn man taucht viel tiefer ein in den Text.

Das Übersetzen eines Romans ist nicht einfach nur die Übertragung von einer Sprache in die andere. Es geht zuerst einmal darum, den Text in allen seinen noch so subtilen Einzelheiten zu verstehen und sich die Gedankenwelt des Autors zu eigen zu machen. Die Faustregel lautet: Die Übersetzung sollte so beschaffen sein, als wäre der Text als Original in der neuen Sprache geschrieben. Um das zu bewerkstelligen, muss der Übersetzer lernen, wie der Autor zu denken. Er muss sein Werk innerhalb dieser gedanklichen Strukturen interpretieren und neu schreiben. Das klingt alles andere als leicht, und ich verrate Ihnen: In einer guten Übersetzung, die sich leicht liest, steckt manchmal sehr harte Arbeit. Und es ist gleichzeitig eine sehr kreative Arbeit. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Meinung, wonach ein Übersetzer »nur« den Text von einer Sprache in eine andere überträgt, ist ein guter Übersetzer Komplize des Autors, jemand, der ihm nicht nur über die Schulter schaut, sondern mit ihm an der Tastatur sitzt und sogar mit seinen Händen schreibt. Mit anderen Worten: Das Übersetzen ist eine sehr kreative Tätigkeit.

Aber die Kreativität des Übersetzers ist eine andere als die des Autors, und genau das ist der springende Punkt, denn ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich beide Arten der Kreativität wundervoll ergänzen. Bei der Übersetzung eines guten Romans, eines anspruchsvollen Textes, lernt man die Denkweise des Autors kennen, und auch sein Handwerk: Man erkennt genau, wie er seinen Roman angelegt, mit welchen Stilmitteln und dramaturgischen Tricks er gearbeitet hat – man bekommt tiefen Einblick in seine Arbeitsweise. Auch als erfahrener Autor kann man dabei noch immer viel für die eigene Arbeit lernen, mehr und besser als durch das einfache Lesen Dutzender Romane. Außerdem ist es manchmal einfach angenehm, mit einem Text zu arbeiten, der »bereits da« ist. 🙂

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